Thema:
Können
Demografen irren?
Demografen haben
etwas von Untergangspropheten. Seit Jahrzehnten sagen sie eine Vergreisung
Deutschlands voraus. Doch wie verlässlich sind diese Ergebnisse eigentlich?
Fünf Fragen und Antworten zu einer oft falsch verstandenen Wissenschaft.
1. Welche Daten
stehen der Demografie zur Verfügung?
Überraschend wenige.
Alle Vorausberechnungen der künftigen Bevölkerung stützen sich auf drei
Grundvariablen: Geburten, Sterbefälle und die Wanderungsbewegungen.
Geburten und Todesfälle werden in Deutschland von den Standesämtern erfasst.
Diese leiten die Zahlen weiter an die Kommunalämter, die Landesämter und das
Bundesamt für Statistik. Ähnlich funktioniert das bei der Wanderungsstatistik,
die sich aus Angaben der Einwohnermeldeämter speist. Die Statistikämter sammeln
alle Informationen und bereiten sie auf. Darüber hinaus können die Demografen
den Mikrozensus nutzen, eine jährliche Befragung von einem Prozent der
deutschen Haushalte – also eine repräsentative Erhebung, die sich auf die
Gesamtbevölkerung hochrechnen lässt. Manche Forschungsinstitute führen auch
selbst Erhebungen durch – zumeist als Stichproben.
Insgesamt ist die
Datenlage nach Meinung vieler Demografen nicht ausreichend. Viele Fragen ließen
sich nur mit einer genauen Bestandsaufnahme, also einer Volkszählung,
beantworten. Die letzte wurde in Westdeutschland 1987 durchgeführt. Die nächste
kommt vermutlich erst 2011.
2. Ist der
demografische Wandel nur eine Behauptung?
Nein, er ist
Tatsache. Auch wenn der Datenbestand der Demografie alles andere als optimal
ist, gibt es keinen Zweifel daran, dass sich die Altersstruktur unserer
Gesellschaft verändert: Es wird immer mehr Ältere und weniger Junge geben.
Wie kommen die Demografen
darauf? Kurz gesagt, sie betrachten die Vergangenheit und berechnen daraus
die Zukunft. Auf der Grundlage der bisherigen Bevölkerungsentwicklung treffen
sie Annahmen über künftige Geburten, Lebenserwartung und Wanderung. Weil heute
niemand genau weiß, wie sich diese drei Variablen entwickeln werden, entwerfen
die Statistiker mehrere Szenarien. Die drei Eckwerte werden darin
variiert. "Es sind Wenn-dann-Modelle", sagt Dieter Emmerling vom
Statistischen Bundesamt. Die absolute Wahrheit werde man dadurch zwar nicht
abbilden, aber man könne sagen, wie sich die Bevölkerung unter bestimmten
Voraussetzungen verändert.
Natürlich passiert
immer wieder Unvorhergesehenes. Ungewöhnlich starke Wanderungsbewegungen, ein
neuer Babyboom oder aber Kriege, Seuchen und Katastrophen könnten die
Ergebnisse über den Haufen werfen. Den demografischen Wandel an sich würden sie
aber kaum aufhalten. "Da müssten extreme Dinge passieren, die in
Deutschland nicht zu erwarten sind", sagt Eckart Bomsdorf,
Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Köln. Selbst
wenn beispielsweise jede Frau im Durchschnitt zwei oder mehr Kinder bekäme,
würde die Gesamtzahl der Neugeborenen nicht kräftig steigen, weil gleichzeitig
die Anzahl der potenziellen Mütter abnimmt.
3. Wo irren die
Demografen?
Beim großen Trend
bieten die Ergebnisse der Demografen also kaum Interpretationsspielraum. Wohl
aber im Detail. Hier offenbaren sich erstaunliche Lücken und Fehler, die zu
falschen politischen Schlüssen führen können.
Das Problem: Viele
Informationen werden in den amtlichen Statistiken nicht erfasst und können nur
geschätzt werden. So weiß beispielsweise niemand genau, wie alt Mütter
durchschnittlich sind, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Auch die
Stammtischparole "Die Falschen kriegen die Kinder" – gemeint ist:
Ungebildete Schichten haben mehr Nachwuchs – kann nur
schwer wissenschaftlich bestätigt werden. "Beim Standesamt fragt
niemand nach der gesellschaftlichen Schicht", sagt Professor Bomsdorf.
Auch auf einem
anderen wichtigen Feld tappen die Demografen im Dunkeln, bei der ethnischen
Zusammensetzung der Bevölkerung nämlich. Offiziell leben circa acht Millionen
Ausländer in der Republik. Wie viele Deutsche einen Migrationshintergrund
haben, taucht aber in keiner offiziellen Statistik auf. Denn bei Geburten wird
ausschließlich nach der Staatsbürgerschaft gefragt, nicht nach der ethnischen
Zugehörigkeit.
Verkompliziert wird
die Situation durch das neue Zuwanderungsgesetz, nach dem viele Ausländer für
ihre Kinder zusätzlich einen deutschen Pass beantragen können – und diese so erstmal als Deutsche in der Statistik auftauchen. "Wir
haben einen hohen verdeckten Integrationsbedarf", sagt Rembrandt Scholz
vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Und das
bedeute, dass viele Annahmen, beispielsweise über Umfang und Kosten nötiger
Integrationsmaßnahmen falsch sind.
4. Wie viele Menschen
leben in Deutschland?
Das wohl
spektakulärste Beispiel für statistische Fehler hat ebenfalls mit Zuwanderern
zu tun. Denn während sich Einwanderer bei der Ankunft in Deutschland meist bei
den Ämtern melden, unterlassen es viele Auswanderer, sich abzumelden. Das hat
zur Folge, dass etliche Personen, die längst dem Land den Rücken gekehrt haben,
in der Statistik weiterleben. Professor Bomsdorf geht
davon aus, dass sich die Zahl dieser "Karteileichen" auf mindestens
eine Million summiert hat. Rembrandt Scholz hält diese Zahl sogar noch für zu
niedrig. Denn auch wenn Menschen innerhalb Deutschlands umziehen und sich nicht
abmelden, werde die Statistik verfälscht.
Man kann also davon
ausgehen, dass die offizielle Bevölkerungszahl von 82 Millionen falsch ist.
Weil "Karteileichen" zudem nicht sterben, werden sie immer älter. Das
fällt nicht weiter auf, so lange es viele Gleichaltrige gibt. Bei den Hochbetagten
jedoch, wenn nur noch wenige eines Jahrgangs übrig sind, machen sich die
"Unsterblichen" deutlich bemerkbar. Bei den Männern über 90 liege ihr
Anteil mittlerweile bei 40, bei Frauen bei immerhin 15 Prozent, hat Scholz
errechnet. Mit anderen Worten: Es gibt in Deutschland längst nicht so viele
Hochbetagte, wie die Statistik vorgaukelt.
Und so können auch
einige daraus abgeleitete Erkenntnisse nicht stimmen. Das Durchschnittsalter in
Deutschland dürfte um einige Monate niedriger liegen. Der Befund, dass die
Sterblichkeit von Männern ab 90 niedriger ist als die der Frauen, ist falsch.
Und auch die Pflegefallwahrscheinlichkeit der Bundesbürger ist ungenau
berechnet.
5. Sterben die
Deutschen aus?
Demografische Daten
sind also unzuverlässig. Und genauso können die Schlüsse falsch sein, die
daraus gezogen werden. Schon früher hat es berühmte Fehleinschätzungen gegeben.
Adenauers "Kinder kriegen die Leute immer" oder Blüms "Die Rente
ist sicher" gehören dazu. Auch heutige Parolen wie "Die Deutschen
sterben aus" oder "Rente gibt es bald nicht mehr" greifen zu
kurz. Professor Bomsdorf: "Jede Elterngeneration
reproduziert sich zu zwei Dritteln. Es wird weniger Menschen in Deutschland
geben, aber die Deutschen sterben nicht aus." Wenn zudem die
Menschen länger gesund leben, länger arbeiten und auch mehr Frauen ins
Erwerbsleben einsteigen, drohe weder ein Arbeitskräftemangel noch ein
Kollabieren der sozialen Sicherungssysteme. "Wenn es ein Drittel zu wenig Kinder gibt, um die gesetzliche Rente zu finanzieren,
muss eben ein Drittel der Altersvorsorge privat oder
betrieblich finanziert werden." Zugegeben, auch diese Interpretation
könnte falsch sein.
Autor: Rainer Kellers